Donnerstag, Mai 25, 2006

Kurt Tucholsky: Kleine Geschichten

Das Stundenkonto
Vor Monaten bin ich einmal mit der Puff-Puff-Bahn von Paris nach Berlin gefahren, denn ich wollte meinem Verleger ins treue Auge sehn ... (»Sie werden auch nie lernen, ein Feuilleton richtig anzufangen. Das fängt man gefälligst so an: ›Das Flugzeug surrte über Le Bourget ab, das gute, alte Paris tief unter sich lassend...‹«) Ja, also ich fuhr mit der Bahn.
An der belgischen Grenze stimmte irgend etwas mit den Uhren nicht; mein mangelhafter mathematischer Verstand läßt es niemals zu, zu verstehen, was da eigentlich vor sich geht; einigen wir uns auf: mitteleuropäische Zeit in Idealkonkurrenz mit der Sommerzeit. Kurz und gut: die Uhren wiesen auf einmal eine Differenz von sechzig Minuten auf. Statt Viertel eins war es plötzlich Viertel zwei.
Das ließ einen der Reisegefährten nicht ruhn. Er wandte sich an den belgischen Zugbeamten.
»Wir haben eine Stunde gewonnen, nicht wahr -?« sagte er. »Nein«, sagte der Mann. »Sie haben eine Stunde verloren.« – »Nein, gewonnen!« rief der Reisegefährte. »Nein, verloren!« rief der Schaffner. Es war wunderschön. Der Gefährte fing an, die Astronomie, etwas Regeldetrie und eine Prise Einstein in einem Topf zu rühren, den er triumphierend dem Schaffner präsentierte. »Wir haben also eine Stunde gewonnen«, sagte er, »wir kommen eine Stunde früher an –!« Es hätte nicht viel gefehlt, und er hatte die Hände vor dem Mund bewegt, wie es die Zirkuskünstler machen, wenn ihnen ein besonders schöner Salto gelungen ist... Der Schaffner nahm den Topf nicht an. Er sagte vielmehr etwas ganz Überraschendes.
»Sie haben eine Stunde verloren!« sagte er. »Denn Sie haben eine Stunde weniger zu leben.« Nie, niemals ist mir der Unterschied der beiden Länder so stark aufgegangen wie in diesem Augenblick.
Wir wollen immerzu ankommen, am liebsten gestern, wir möchten es ganz eilig haben, und wenn es schneller, noch schneller, am allerschnellsten geht, dann bilden wir uns ein, etwas gewonnen zu haben. Der Franzose will leben. Dieser Schaffner trug eine belgische Uniform, aber es war etwas durchaus Französisches, was er da gesagt hatte. Der Franzose will leben.
Und er lebt auch, als ob er tausend Jahre zu leben hätte. Verabrede dich am zweiten des Monats mit einem Pariser; es ist nicht ausgeschlossen, daß er dir eine Zusammenkunft für den achtundzwanzigsten vorschlägt. Frankreich ist so schön weit weg von Amerika ... Am achtundzwanzigsten kommt er dann auch angewackelt, er hat es nicht vergessen. Alles, alles kannst du in Paris – aber etwas an einem einzigen Vormittag erledigen: das mach mir mal vor. Du hast gar keine Zeit, und der Franzose hat viel zuviel, und so kommt ihr schwer zusammen.
Natürlich hat auch der Schaffner einen Denkfehler gemacht; denn in Wahrheit ändert der vorgestellte Zeiger nichts an der Dauer unseres Lebens; aber so denken sie hier. Ich weiß nicht, ob man damit »vorankommt«; ich kann auch nicht beurteilen, ob man so gute Geschäfte macht, ob das Land auf diese Weise konkurrenzfähig bleiben wird, bis in alle Ewigkeit... das weiß ich alles nicht. Ich weiß nur, daß die Franzosen erst einmal leben wollen, und dem hat sich alles andere unterzuordnen. Einmal hatte es ein Deutscher sehr eilig in Paris, als er bei Tisch saß, und er sagte das auch dem Kellner ... Darauf jener: »Wenn Sie keine Zeit haben, dann müssen Sie nicht frühstücken –!« Das ist eine Lebensweisheit.
Die Franzosen bummeln nicht, sie sind nicht säumig, noch weniger etwa faul, wie schlechte Lesebücher das deutschen Kindern manchmal einreden wollen. Ihr Lebensrhythmus, ihr Arbeitstakt ist ein anderer, und wenn man mit ihnen fertigwerden will, so muß man sich diesem andersgearteten Takt eben anpassen. Was für uns nicht immer einfach ist...
Ich will gar nicht einmal vom Pariser Telephon erzählen, einer Maschine, die die Franzosen selbst nicht ernst nehmen, sonst funktionierte sie. Sie funktioniert aber nicht, und man tut gut, in eiligen Fällen zu dem Anzutelefonierenden hinzufahren; man wird Zeit sparen, Nerven und Kraft. Es liegt eine fast orientalische Ruhe im französischen Gehaben, die von der schnellen Sprache und einer fast unmerklich nervösen Atmosphäre sonderbar absticht. Und nichts bringt den Franzosen so durcheinander wie einer, der etwa ununterbrochen mitteilen wollte, wie eilig er sei, wie wenig Zeit er habe, wie schnell das alles erledigt sein müsse ... Er wird auf Granit beißen. Er wird den französischen Charakter voll erkennen, der, bei aller Beweglichkeit, unglaublich störrisch sein kann, von einem Eigensinn, der ganzen Planeten standhält... Da wird nichts zu machen sein. Mit schweren Säbeln ist hier gar nichts auszurichten. Man fechte Florett.
Das Allermerkwürdigste ist, daß der Drang, das eigene Leben voll zu Ende zu leben, sogar den Erwerbstrieb überwiegt: erst das Leben, dann das Geschäft. Und es ist ungemein bezeichnend für die Lebensauffassung der Franzosen, daß sie in prekären Lagen vorziehen, weniger auszugeben, also zu sparen, als mehr zu verdienen. Mit dem Klischee »Es ist eben ein Rentnervolk« kommt man der Sache nicht näher – denn Rentner arbeiten nicht so viel, wie es hier Frauen und Männer allenthalben tun.
Dazu kommt, daß die neue junge Generation denn doch wesentlich anders aussieht – sie ist flinker, schneller, tangogescheitelter, autohafter, anders. Und doch französisch. Es ist – unübersetzbar–: »un peuple débrouillard«, ein Volk, das die Sache »schon schmeißt«, das sich herausfindet und herauswindet; das, scheinbar planlos, bis hart an den Rand des Abgrunds rollt und dann – im allerletzten Augenblick – eines jener Wunder vollbringt, von denen die französische Geschichte voll ist. So haben sie ein sauber geführtes Stundenkonto, anders als das unsere – und auf der Aktivseite steht ein Posten, der alle, alle andern überstrahlt: das Leben.
1930

Dienstag, Mai 16, 2006

Yousana-wo-bi-räbidäbi-dé?

Peter Panther, Vossische Zeitung 558, 25.11.1928

Fremde Sprachen sind schön, wenn man sie nicht versteht.
Ich habe einmal den großen J.V. Jensen gefragt, wie er es denn gemacht habe, um Asien uns so nahe zu bringen wie zum Beispiel in den "Exotischen Novellen" - und ob er lange Chinesisch gelernt habe... "Ich reise so gern in China", sagte Jensen, "weil da die Leute mit ihrer Sprache nicht stören! Ich verstehe kein Wort." Hat recht, der Mann.
Fremde Sprachen sind schön, wenn man sie nicht versteht. Ein Wirbel wilder Silben fliegt uns um den Kopf, und Gott allein, sowie der, der sie ausgesprochen hat, mögen im Augenblick wissen, was da los ist. Wie nervenberuhigend ist es, wenn man nicht weiß, was die Leute wollen! "Da möchte man weit kommen", hat der weiseste Mann dieses Jahrhunderts gesagt, "wenn man möcht zuhören, was der andere sagt!" Im fremden Land darf man zuhören, es kostet gar nichts - höflich geneigten Kopfes läßt man den Partner ausreden, wie selten ist das auf der Welt! Und wenn er sich ganz ausgegeben hat, dann sagst du, mit einer vagen Handbewegung: "Ich - leider - taubstumm und... kein Wort von dem, was Sie da erzählen...!" Das ist immer hübsch, es ist ausgezeichnet für die Gesundheit.
Nun ist das auf der ganzen Welt so, daß die Leute, wenn man sie nicht versteht, schön laut mit einem reden; sie glauben, durch ein Plus an vox humana die fehlenden Vokabelkenntnisse der andern Seite zu ersetzen... Und wenn du klug bist, läßt du ihn schreien.
Schön ist das, in einem fremden Land zu reisen, und auf fremdländisch grade "Bitte!", "Danke!" und "Einschreibepaket!" sagen zu können - gewöhnlich ist unser einziges Wort eines, das wir auf der ganzen Reise nicht verwenden. Das mit dem Lexikon und den Sprachführern habe ich längst aufgegeben. Sagt man nämlich solch einen Satz den fremden Männern, so ist es, wie wenn die mit einer Nadel angepiekt seien - der fremde Sprachquell sprudelt nur so aus ihnen heraus, und das steht dann wieder im Sprachführer nicht drin... Aber wie schön, wenn man nichts versteht!
Was mögen die Leute da alles sagen! Was können sie denn schon alles sagen?
Du hörst nicht, daß da zwei Männer sich eine sehr wichtige Sache wegen der Übernahme der Aktienmajorität des Streichholz-Trustes erzählen, und dann eine Wohnnungsschiebung, und dann einen unanständigen Witz (alt! alt!) - und dann Gutes über eine Frau, die sie beide nicht haben wollen, und dann Schlechtes über eine, die sie nicht bekommen konnten: das brauchst du alles nicht mitanzuhören. Der kleine Kellner auf dem Bahnhof ruft etwas aus, was wahrscheinlich nicht einmal die Einheimischen verstehen, und daß er mäßiges Obst verkaufen will, siehst du alleine. Sanfte Träumerei umspinnt dich - was mögen diese wirren, ineinandergekapselten, schnell herausgekollerten, halb herunterschluckten Laute nur alles bedeuten...! Andere Kehlköpfe müssen das sein - andere Nasen - andere Stimmbänder - es ist wie im Märchen und was du auf der Schule gelernt hast, hilft dir nicht, weil diese das offenbar nicht oder falsch gelernt haben; und ist es nicht schön, wie ein sanfter Trottel durch die Welt dahinzu...
"Na, erlauben Sie mal! Wenn ich auf Reisen bin, da will ich aber ganz genau wissen, was los ist; man muß als gebildeter Mensch doch wenigstens etwas verstehen!" Es ist so verschieden im menschlichen Leben...
Im Irrgarten der Sprache herumzutaumeln... das ist nicht eben vom Übel. "Schööör scheeh Ssä Reeh!" rufen die Franzosen; laß sie rufen. "Tuh hau wi paak" gurgeln die Engländer; laß sie gurgeln. Und ich frage mich nur, was mögen wohl die Ausländer in Deutschland hören, mit ihren Ohren, wenn unsere Bahnhofsportiers, Schutzleute, Hotelmenschen ihnen etwas Deutsches sagen...?
Es ist ein kleines bißchen unheimlich, mit Menschen zu sprechen, ohne mit ihnen zu sprechen. Da merkt man erst, was für ein eminent pazifistisches Ding die Sprache ist; wenn sie nicht funktioniert, dann wacht im Menschen der Urkerl auf, der Wilde, der da unten schlummert; eine leise Angstwolke zieht vorüber, Furcht und dann ein Hauch von Haß: was ist das überhaupt für einer? ein Fremder? Was will der hier? Und wenn er hier selbst was zu wollen hat: was kann ich an ihm verdienen? Und besonders auf den Straßen, vor den Leuten, die nicht gewerbsmäßig mit Fremden zu tun haben, fühlt man sich ein bißchen wie ein im Urwald auftauchender Wolf - huhu, Geheul unter den hohen Bäumen, der Wanderer faßt den Knüppel fester... und nur wenns gut geht, fuchteln sie dann mit den Händen.
Sonst aber ist es hübsch, durch eine Welt zu wandeln, die uns nicht versteht, eine, die wir nicht verstehen - eine deren Laute nur in der Form von: "Yousana-wo-bi-räbidäbi-dé" an unser Ohr dringen... Mißverständnisse sind nicht möglich, weil die gemeinsame Planke fehlt - es ist eine saubere, grundehrliche Situation. Denn wie sprechen Menschen mit Menschen?
Aneinander vorbei.

Sonntag, Mai 07, 2006

....me and my monkey